KAY
HOFFMAN
DAS INTEGRALE MYSTERIUM (2018-2021)
Teil I
Es ist ein Phänomen und bleibt
ein Mysterium…
Phänomenologische Bewusstseinsforschung
mit Fokus auf außergewöhnliche Zustände der Trance, der Ekstase, des mystischen
Erlebens – in diesem Zusammenhang phänomenologisch vorgehen zu wollen bedeutet
die Phänomene für sich selbst sprechen zu lassen. In gewisser Weise lehrt uns
das Phänomen, die Erscheinungen nicht persönlich zu nehmen. Die eigene Person
erweist sich als zu eng gesteckter Rahmen für eine Bewusstseinserfahrung, die
über die Grenzen des Persönlichen hinausgeht. Das Integralen Mysterium hingegen
gibt eine Rahmung vor, die jedoch als Mysterium getarnt das Bewusstsein dazu
auffordert, das Undenkbare jedes Mal aufs Neue denken und somit integrieren zu
wollen.
Ich will von Ausnahmezuständen
des Bewusstseins ausgehen: Trance, Ekstase. Ich will begreifen, was das mystische
Erleben ausmacht, noch lange bevor es in den Katechismus der Mystik und seine
Kategorien eingeordnet wird, um einer festgelehrten Lehre der Hochreligionen
gemäß verwaltet werden zu können. Ich will den rohen Stoff, aus dem das
Phänomenale gemacht ist: das, was die Sinne direkt anspricht und auf sie
einwirkt. Ich will von der Erschütterung ausgehen, zu der der Mensch fähig ist:
ein Tremendum, Entzücken wie Entsetzen, das aus dem Normalen, dem Genormten,
heraushebt. In diesen Ausnahmezuständen wird das Gewohnte seiner
Selbstverständlichkeit enthoben. Ekstase ist die ursprüngliche
Beschreibung dafür, Heidegger wird deshalb Existenz, von ihm definiert
als das direkte Erleben des Seins, anders schreiben als gewohnt, nämlich Ek-sistenz, also als das bewusste Erleben von
etwas, was sich heraushebt aus dem Faktischen. Existenz ist mehr als ein Fakt.
Nur die phänomenologische Betrachtung und Beschreibung lässt solches zu.
Einerseits nämlich erscheint das Phänomenale den Sinnen als Sensation,
andrerseits aber leitet der Logos in der phänomenologischen Betrachtung das
Bewusstsein dazu an, den Geist (logos) im Erscheinen
des Dinglichen, Faktischen, Gegenständlichen aufzuspüren und somit von einer
reinen Sensation zu unterscheiden. Die Sensation stimuliert die Sinne: endlich
ist die Monotonie des endlos sich wiederholenden Inputs unterbrochen. Die
Sensation ist ein Stimulans, mehr nicht. Das Wahrnehmen des Phänomens als etwas
Phänomenales hingegen ist eine Fähigkeit und Leistung des Bewusstseins, Ek-sistenz als Ekstase als der erste Schritt einer
Annäherung an eine hintergründige Wahrheit (des Geistes, des Logos), die sich
nur durch den Schein ihrer Erscheinung zeigt.
Lange bevor das Philosophieren
den Weg der Phänomenologie entdeckte, gerieten Menschen in Ekstase. Wie
Felicitas Goodman sagt: Ekstase ist etwas absolut Natürliches. Ekstase hat die
evolutionäre Funktion, das Leben mit allem was es mit sich bringt zu bejahen.
Ekstase schafft jene Kontinuität, die die Bejahung über das individuelle
Schicksal des Einzelnen hinweg sich fortsetzen lässt. Einer mag es Gott nennen,
was alles verbindet, der andere Natur, und manche staunen nur – und mit dem
Staunen beginnt das Philosophieren. Das Staunen beinhaltet alles, was es
braucht, um sich Gedanken zu machen und sie zu einem wohlgeordneten Ganzen sich
sammeln zu lassen, denn in der Sammlung setzt sich das Bewusstsein selbst einen
Höhepunkt, der immer vorläufig bleiben wird, nur so wirkt er erhebend.
Wer ist dieses ICH, das es
schafft, sowohl sinnlich wahrzunehmen und sich einzulassen auf den Lauf der
Dinge, der Zeit, der Erscheinungen, als auch sich selbst dabei beobachtet,
danach trachtend von einer höheren Warte aus sich einen Überblick zu
verschaffen, was mehr ist als ein Rückblick, und in einer Schau das Ganze zu umfassen,
das erst durch diese Art der schauenden Beobachtung zum Ganzen wird, und all
dies tut, um dem Ganzen einen höheren Sinn zu geben als dem, den ihm die Sinne
rückmeldend vermitteln wollen? Wer ist dieses ICH, das sich einlassen kann und
zugleich zentriert, konzentriert, sich sammelt, um aussteigen und aufsteigen zu
können, wer ist es also, wenn nicht das INTEGRALE SUBJEKT, ein Subjekt also,
das die Fähigkeit zur Integration nicht nur horizontal nutzt sondern vertikal
einsetzt?
Die Vertikalität der sinnlich ausgerichteten
Wahrnehmung (inklusive der Selbstwahrnehmung) entscheidet letztlich darüber,
wie die wahrgenommene Vielfalt der Phänomene sich anordnet und einordnet in die
Vorstellung eines wie auch immer gearteten
Höheren, das sich als übergeordnete Kategorie des Denkens erweisen wird.
Das INTEGRALE SUBJEKT, geboren
aus einem intersubjektiven Austausch, nährt sich von neuen Zuflüssen, die
mannigfach vernetzt ihm zukommen aus wunderbaren Quellen, ohne dass deren
Ursprung sich enthüllen müsste, denn sie wirken immer JETZT und SOFORT, in
einem Augenblick (instant) und entfalten sich zunehmend im Bewusstsein
eines INTEGRALEN SELBST und genau das macht das Mysterium aus.
Mit Hilfe der Phänomenologie lässt sich das eigene „Ich“ und
sein Selbstbewusstsein von innen erleben als gefühlte Erfahrung, die als
Erzählung mitgeteilt werden kann und die Basis einer Subjektivität bzw.
Intersubjektivität bildet. Die Sicht der 1. Person auf die 1. Person bzw. auf
die Erfahrung die diese macht und gemacht zu haben sich erinnert bildet eine
Art Universum im Kleinen, ein System, das sich auf andere Personen beziehend
und verallgemeinernd auf alle Personen übertragend zu dem großen Format einer
sinnstiftenden Idee und schließlich einem evolutionär wirksamen Ideal entwickeln
kann. Hier wird ein großer Rahmen gesetzt. Doch damit der Rahmen nicht das Bild
bestimmt und ihm den Raum wegnimmt, den es braucht, um sich auszubilden, soll
hier der Rahmen als Provisorium mit einem Titel versehen werden, der das
Mysterium als Integral und das Integral als Mysterium anschaut. Diese Schau
erlaubt es, an dem Allerlei allermöglichen Gegenstände, die sich in den Weg
stellen, vorbei zu schauen, hinein zu schauen in einen allumfassenden
Hintergrund, und von diesem Hintergrund ausgehend das Vordergründige in einem
größeren Zusammenhang anzuschauen.
Phänomenologisch
vorzugehen heißt, sich von den Phänomenen selbst leiten zu lassen und das
direkte, unverstellte Erleben des Phänomenalen nicht durch eigene vorgefasste
Einstelllungen zu beschränken. Dass dies leichter gesagt ist als getan, weiß
jeder, der versucht hat, das eigene Erleben als Erfahrung so zu verarbeiten,
dass so wenig wie möglich an Direktheit verloren geht. Was eignet sich da
besser, von einem Mysterium zu sprechen, wenn es darum geht, das Erleben im
Gedächtnis so zu verwahren, dass seine Wahrheit erhalten bleibt, indem sie
nicht definitiv definiert wird, sondern offensteht? Das Offen-stehen beruht auf
der kommunikativen Fähigkeit des Stehen-lassens im Raum, nicht Ja zu
sagen, nicht Nein, auch nicht Vielleicht, nicht Wenn und
nicht Aber, und auch nicht Auf-keinen-Fall.
Es ist ein
imaginärer Raum. Alles hat darin Platz, aber nicht alles hat seinen Ort, denn
Orte brauchen eine Ordnung in Form einer Anordnung, durch die sie sich kartographisch
vermessen und topologisch im Bewusstsein abgespeichert einfügen lassen.
Und gerade diese
Ordnung schafft einen Rahmen.
Der Fokus liegt auf der Eigenschaft des Integralen, das dem Mysterium
zugemessen wird.
Das Adjektiv „integral“ ist nicht nur als mathematisches Zeichen für eine Lösungsfunktion in einer
Differentialgleichung im Rahmen der Infinitesimalrechnung
in die Bewusstseinsgeschichte eingegangen, sondern neuerdings durch das Integrale
Bewusstsein nach Jean Gebser, an das die Integrale Theorie nach Ken Wilber anschließt, aber vor allem durch den Integralen
Yoga nach Sri Aurobindo, den Gebser als eine überragende Autorität
anerkennt und ihn den „großen Wirklichkeitshersteller“ nennt.
Zwar ist die Vorstellung einer übermenschlichen Leitfigur
schon im Keim im Buddhismus und im Christentum vorhanden, doch erst im 20.
Jahrhundert sahen Vordenker wie Sri Aurobindo, Teilhard de Jardin, Jean Gebser
und schließlich Ken Wilber in herausragenden
Gestalten wie Buddha und Jesus Exemplare oder Vorboten eines neuen Menschen,
einer Bewusstseinsebene, die irgendwann alle Menschen erreichen. Es gehört
Erhebliches dazu, den Wust von defizienten Umwelten auszuhalten und sie
transparent zu bekommen, zumal ihre Defizienz und zerstörerische Kraft und
Reichweite umso deutlicher werden, je transparenter sie werden. Man kann das
wohl nur aushalten, wenn die eigene Wirklichkeit am Grunde von einer Kraft
mitbestimmt wird, die in hohem Maße effizient und eben kraftvoll ist. Gebser
hat diese Kraft als das Geistige oder den Ursprung oder – später, nachdem er
Aurobindo als den großen Wirklichkeitshersteller erkannt hatte – als das
universale Bewußtsein bezeichnet, das im integralen Bewußtsein für uns wirklich wird.
(Auf dem Wege zu neuer Wirklichkeit, Vortrag auf der Jahrestagung der
Internationalen Jean Gebser-Gesellschaft 30.9.2000 von Kai Hellbusch)
Vorwort: Das Integrale Subjekt
schreibt Bewusstseinsgeschichte.
Offener
Himmel, offenes Geheimnis. Seit ich darüber angefangen habe zu schreiben
wiederhole ich das in mir: offener Himmel, offenes Geheimnis – es läge darin
die Antwort auf die Frage, wie eine solche Geschichte zu schreiben wäre. Noch
ist alles offen. Nichts ist entschieden und festgelegt. Es könnte irgendeine Geschichte
sein, die ein Mysterium zum Inhalt hätte, und was dieses Mysterium wäre, und zu
wem es gehört, wer davon erzählte, alles das wäre offen und frei schwebend im
Raum wie ein Gespinst bevor es sich zu einem Text verwebt. Was würde diese
Geschichte über die Person aussagen? Und wie würde es sich anfühlen, in das
Geschehen einzusteigen, das den Stoff dazu liefert?
Wie bin ich nur darauf gekommen, so etwas schreiben zu wollen? Genau, hier
beginnt sich ein roter Faden abzuzeichnen. Ich nehme ihn auf und schau, wohin
er mich führt. Am Anfang war da, vor gar nicht langer Zeit, ein Bedürfnis, sich
einen Überblick zu verschaffen.
Dieses
Bedürfnis ist keines, das Druck ausübt: es gibt keine Notwendigkeit, ihm
nachzukommen, und doch drängt es auf seine ganz besondere, fast unmerkliche
Weise, von keiner biologischen Uhr, von keiner Terminvereinbarung diktiert,
darauf bewusst zu werden, nicht als das Ergebnis einer Fremdbestimmung, ganz im
Gegenteil, sondern als etwas, das aus der eigenen Tiefe kommt. Es ist eine Bewegung,
kein Gegenstand. Dieses ES lässt sich nicht fassen, verdinglichen. Es ist die
Matrix aller Phänomene und alles Phänomenalen.
Jean
Paul schreibt:
Der denkende Teil in mir entdeckt in der Welt überall Ordnung, nur der
empfindende nicht, der nicht der Zuschauer, sondern ein Glied in der Kette ist.
Jean
Paul überblickt sein Leben in der Erinnerung, und da wird der geweitete
Überblick zur allumfassenden Schau. Was sah der Selberlebensbeschreiber
Jean Paul, der sein Leben aufzuzeichnen versuchte? Nach eigenen Worten schauete er da wie ihn damals ein noch unerlebtes gegenstandsloses Sehnen überfiel, fast mehr aus
lauter Pein und wenig Lust gemischt war und Wünschen ohne Erinnern war.
Das
gegenstandslose Sehnen, vielleicht
dem wunschlosen Glück verwandt insofern es spontan auftaucht und ohne
Zweck und Ziel, ganz ohne Absicht ist, dieses Sehnen mag an jenen Trieb
erinnern, der nach Spinoza dem Menschen seit Geburt mitgegeben ist, conatus, ein Streben, das von der Natur
mitgegeben ihr entspringt und diese im Prozess der Bewusstwerdung,
Selbstwerdung zu überwinden sucht.
Wir sind im Stande, alles zu werden, aber nicht, etwas ganz oder lange zu
sein, notiert Jean Paul in jungen Jahren, in denen er sich schon Gedanken
über den Menschen macht: In seinem unteilbaren Ich findet er Wunder, die er
durch kein Bild ausdrücken kann, die er bloß fühlen muss. Er zerlegt das Wesen
der Empfindung, indem er empfindet, bemerkt die Gesetze des Denkens, indem er
denkt, betrachtet den Willen, indem er begehrt.
(Beatrix Langer, Jean Paul, Meister der zweiten Welt, S. 64)
Es scheint bei der
Selbsterkenntnis nicht um Pünktlichkeit, auch nicht um eine Punktgenauigkeit zu
gehen, und doch drängt alles in mir darauf, auf den Punkt zu kommen. Die Tage
vergehen ohne sich an Termine zu halten.
Dieses Vergehen der Tage spielt dem Bedürfnis nach Überblick in die
Hände. Ich will mein Leben überblicken, als läge im Überblicken-Können des
Lebens dessen einziger Sinn. Die Begegnung mit der Unendlichkeit verleiht der
Endlichkeit einen Rahmen: endlich verbietet sie sich die Endlosigkeit.
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Vorwort:
Das Integrale Subjekt schreibt Bewusstseinsgeschichte.